Um sich auf internationaler Bühne nicht dem Vorwurf einer völkerrechtswidrigen militärischen Aggression auszusetzen, wurde diese Maßnahme – sozusagen im Sinne einer Spezialoperation – als bewaffnete Eskorte einer Kommission von 72 französischen, belgischen und italienischen Ingenieuren und Technischen Beamten deklariert: Diese sollten den Zustand von Zechen, Kokereien und Eisenbahnen prüfen und für französische und belgische Ansprüche nutzbar machen.
In Paris und Brüssel konnte man seit September 1920 auf ein bilaterales Militärbündnis zu-rückgreifen; seit der Londoner Konferenz von August 1922 galt das Ruhrgebiet mit seiner leistungsstarken Montanindustrie als einträgliches Pfand für unbefriedigte Forderungen gegen das Deutsche Reich. Die empörte deutsche Öffentlichkeit, die sich in einer Opferrolle sah, sprach hingegen von Ruhreinbruch und Ruhrkampf, ja sogar von Ruhrkrieg und Ruhrschlacht; feindselige Propaganda heizte die Stimmung immer weiter an. Entsprechende Invasionspläne hatten Marschall Ferdinand Foch, Präsident des Obersten Kriegsrates der Französischen Republik, der Oberkommandierende der Rheinarmee, Generalmajor Jean-Marie Degoutte, ferner der Ruhrausschuss der französischen Regierung und Paul Tirard, Präsident der Interalliierten Rheinlandkommission, bereits im Frühjahr 1921 entwickelt. Duisburg, Ruhrort, Düsseldorf und Kettwig waren als Ausgangspunkte für diese Operation vorgesehen und zu diesem Zeitpunkt schon von alliierten Truppen besetzt.
Bereits Mitte Dezember 1922 hatte die „Recklinghäuser Zeitung“ mehrfach vom drohenden Einmarsch berichtet. Nicht von ungefähr verwandelten sich Anfang Januar 1923 Duisburg, Düsseldorf und Ratingen in ein Heerlager, weil unaufhörlich Züge mit Truppen und schwerem Gerät in die dortigen Bahnhöfe einrollten. Der Vormarsch selbst kam alles andere als überraschend, Widerstand gab es im entmilitarisierten Ruhrgebiet nicht. Essen war am 11. Januar 1923 als erstes an der Reihe, General Degoutte bezog Quartier auf Villa Hügel.
Am Montag, dem 15. Januar 1923 erreichten, von Herten kommend, französische Radfahrertrupps und Vorausabteilungen leichter Kavallerie auch Recklinghausen. Noch am selben Tag wurde im Rathaus eine französische Kommandantur eingerichtet, ebenso ein städtisches Besatzungsamt, das die Probleme massenhafter Einquartierung zu lösen hatte. Auch im Kreishaus am Herzogswall gab es eine französische Dienststelle. Resolutionen und Protestnoten des Oberbürgermeisters Sulpiz Hamm, des Magistrats, der Stadtverordnetenversammlung und einer Bürgerversammlung im „Kaisergarten“ verhallten wirkungslos. Der neue ‚starke Mann‘ in Recklinghausen war ab Ende Januar 1923 der Divisionsgeneral Joseph Jean Baptiste Laignelot.
Über die Einmarschzone, die sich im Süden über Mettmann, Sprockhövel, Volmarstein und Herdecke, im Norden, entlang der Lippe, von Wesel über Dorsten bis Lünen/Bergkamen und im Osten bis nach Dortmund-Brackel und -Hörde erstreckte, wurden Kriegsrecht und Belagerungszustand verhängt. So etablierte sich ein Militärregime, das die Besatzungstruppen mit besonderen Machtbefugnissen und Durchgriffsrechten auch in zivilen und wirtschaftlichen Belangen versah. Neben zahlreichen Ausweisungen schritten die Franzosen und Belgier auch zu Gewalthandlungen gegen die Bevölkerung, es gab Tote und Verletzte: Die SPD-Zeitung „Vorwärts“ sprach, nachdem es einschlägige Vorfälle auch in Recklinghausen gegeben hatte, im Februar 1923 von einer „Diktatur der Reitpeitsche und des Revolvers“.
Im Laufe des Jahres, als der sog. Passive Widerstand erhebliche Wirkung entfaltete, rückten weitere französische Einheiten nach, bis im Ruhrgebiet eine Truppenstärke von nahezu 100.000 Mann erreicht war – die gesamte Reichswehr der Weimarer Republik hatte kaum mehr Soldaten aufzubieten. Hinzu kam eine Zollgrenze, die das besetzte Gebiet vom Umland trennte und die Lippe bei Dorsten, Haltern und Ahsen zu einer Barriere für Wirtschaft, Verkehr und Handel machte. Mitten durch den Landkreis Recklinghausen verlief die Demarkationslinie zwischen der französischen und belgischen Besatzungszone; zum belgischen „Ruhr-Detachement“ gehörten neben Bottrop, Kirchhellen, Sterkrade und Osterfeld auch Dorsten, Hervest, Holsterhausen, Buer, Gladbeck, Marl, Lenkerbeck und Hüls. Östlich von Hamm-Bossendorf stieß der belgische Sektor an das südliche Lippe-Ufer.
Recklinghausen war von Anfang an als Vorposten der Franzosen im nördlichen Ruhrgebiet vorgesehen. Nach diversen Truppenverschiebungen beherrschten im Herbst 1923, auf dem Höhepunkt französischer Präsenz im Ruhrgebiet, rund 4.500 Soldaten das Stadtbild: darunter Infanteristen, das Dragoner-Regiment Nr. 18, das mit 670 Pferden und Maultieren von Landau aus in Marsch gesetzt worden war. Hinzu kamen mehrere Bataillone Gebirgsjäger aus Grenoble und Embrun – diese Elitetruppe bildeten bis 1924 das Gros der Recklinghäuser Garnison –, Technische Einheiten, darunter ein Eisenbahn-Kommando, Feldgendarmerie, Zollbeamte, Sanität und eine Formation von „Renault“-Panzern. Als Mannschaftsunterkünfte sah man Gebäude von Volksschulen vor, aber auch Gastwirtschaften mit größeren Gesellschaftsräumen (das Hauptquartier der Alpenjäger und der Stab der 47. Infanterie-Division befanden sich indes im Gymnasium Petrinum). Höherrangige Militärs wiederum nahmen Logis in Hotels und beschlagnahmten Privatwohnungen; die Engelsburg wurde zum Offizierskasino, wo sich auch eine französischsprachige Bibliothek befand.
Im April 1923 spitzte sich die Lage zu. Spektakuläre Bilder entstanden am 7. April an der Südgrenze Recklinghausens nach einem nächtlichen Sprengstoffanschlag. Eine paramilitärische Widerstandsgruppe zerstörte die Wasserlaufkreuzung von Rhein-Herne-Kanal und Emscher, gelegen zwischen Henrichenburg und Habinghorst. So lief plötzlich der Kanal leer, während die Emscher überflutet wurde. Dadurch kam der Schiffstransport von Kohle und Koks Richtung Rhein und somit auch Richtung Frankreich zum Erliegen. Die Besatzungsmacht griff hart durch und verurteilte deutsche Saboteure zum Tode – darunter auch Leo Schlageter, der schon 1933 zum „Märtyrer“ der NS-Bewegung und zum Namensgeber für die Umbenennung des Neumarktes in Recklinghausen-Süd wurde. Erst 1924 entspannten sich die Verhältnisse, im Frühjahr entstanden Pläne für den Bau einer französischen Kaserne am Beisinger Weg. Man richtete sich offenbar auf einen längeren Aufenthalt in Recklinghausen ein, denn Ende 1924 zogen sogar Familienangehörige des Offizierskorps und der Eisenbahner in die Stadt. Bis zum Abmarsch der Dragoner am 18. Juli 1925 verblieben französische Streitkräfte in Recklinghausen.
Aus den Akten des erwähnten Besatzungsamtes und zusammen mit Unterlagen des Zentralbüros, welches die Kommunikation zwischen der Stadtspitze und der französischen Kommandantur besorgte, formierte sich 1927/28 unter dem zeitgenössischen Rubrum ‚Ruhrkampf – Sammlung Besatzungsakten‘ ein kompakter Schriftgutkomplex von knapp 50 Archivalien. In seinem ursprünglichen Überlieferungszustand, der auch zahlreiche plakative Verlautbarungen und Befehle französischer Stellen enthält, gelangte dieser Bestand in den 1970er-Jahren in die Obhut des Stadt- und Vestischen Archivs Recklinghausen. Dort blieb er aber von der Forschung weitgehend unbeachtet. Im Abstand eines Jahrhunderts und größtenteils aus dem Fundus dieser Überlieferung erarbeitet, will die Ausstellung nun Schlaglichter auf Formen repressiver Kommunikation, auf das feindselige, nahezu kriegerische Verhältnis und die ungleichen Beziehungen zwischen der Besatzungsmacht und der Stadt Recklinghausen werfen. Dabei können unbekannte Text- und Bilddokumente, einige auch aus Herten und Castrop-Rauxel, präsentiert werden. Die Exponate zeigen, dass insbesondere im Ruhrgebiet fünf Jahre nach dem Großen Krieg zwischen Deutschland und Frankreich „die Linie zwischen Krieg und Frieden bis zur Unkenntlichkeit verwischt war“ (Adam Tooze, Sintflut. Die Neuordnung der Welt 1916–1931, München 2015).
Dr. Matthias Kordes, Stadtarchivar